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EINE ZÃœNDUNG ...

Den Anfang machte ein Paket von Roman Signer, ein Geschenk an René Schmalz, das beim Empfänger etwas ausgelöst hat, das wir alle kennen: ein Freudengefühl, ein Gefühl des Geehrtseins und Dankbarkeit, dass jemand - und vielleicht ist dieser Jemand etwas ganz Besonderes - an einen gedacht hat. Aus diesem ersten Überraschenden erwächst ein Zweites: die Neugierde. Was steckt hinter, unter, in der Verpackung? Worum handelt es sich beim Verborgenen? Auch dies kennen wir alle. René Schmalz ist in die Rolle des Freudigen, Geehrten und Neugierigen geschlüpft und hat sich in dieser kurzen Zeit der verschiedenen Stimmungen vom Empfang bis zum erwarteten Höhepunkt des unerwarteten Einblicks in eine Begeisterung hineingesteigert. Szenenwechsel. Cafeteria im Fünfeckpalast am Trogener Landsgemeindeplatz: Hier trafen sich der einheimische Künstler René Schmalz und Thomas Jud, Informations- und Dokumentationsassistent der Kantonsbibliothek gelegentlich, um über Gott und die Welt zu sinnieren. «Es gibt keinen Ort, wo Kunst berührt oder durch eine Aktion, eine Bewegung, einen (Ein-)Griff mit den eigenen Händen neu wahrgenommen werden kann», bedauerte der Künstler; sinnliche Erlebnisse wie etwa die Freude beim Öffnen eines Buches und beim unerwarteten Anblick einer zufällig aufgeschlagenen schönen Buchseite fehlen. Kunstbetrachtung mit dem blossen Auge ist interessant, aber doch auch eindimensional, und wenn Kunst im Künstlerarchiv verschwindet, ist sie weg. Die Frage kam auf, wie der Begriff "Archiv" gegenwartsbezogen umgesetzt werden könnte - und plötzlich sprudelte die noch frische kindliche Begeisterung am Auspacken des Pakets von Roman Signer ins Gespräch und formte sich zur Idee, dass genau dieses Erlebnis immer wieder neu und je individuell stattfinden könnte an keinem anderen Ort als hier, in den Räumen der Kantonsbibliothek.

A SPARK...

It started with a parcel by Roman Signer, actually a gift to René Schmalz, which set free a feeling to the addressee known to all of us: joy, honour and gratitude, when it becomes evident, that somebody's mind was with us. First coming as a surprise secondly it lets a feeling growing which is commonly known: curiosity. What is under the cover? What is hidden inside? This time it's René Schmalz who is pleased, honoured and curious, and he has gone through the emotional vortex of a beneficiary, who cannot await the climax of perceiving the unexpected inside. Cut. The cafeteria in the pentagonal palace at the communal square of Trogen occasionally served as a meeting point of the native artist René Schmalz and Thomas Jud. The last was assistant manager of information and documentation at the Cantonal Library. Together they meditated about everything and anything. The artist felt disappointed that, there was no place, where you can touch an artwork or update your perception by action, movements, a grip of your hand. He missed sensual adventures like the joy you might derive from opening of books and the unexpected beauty of a randomly discovered page. Seeing art with the naked eye may be interesting, but it is one dimensional only, and when art works disappear in an archive they are hidden. So the question arose, in what way an archive should be arranged to fit into the contemporary world. - And all of a sudden the fresh childlike excitement that accompanied the unwrapping and opening of Roman Signer's parcel, came about and generated the idea, that exactly this would be the experience, which might be renewed any time when an individual uses a piece of the collection at this place in the Cantonal Library.

ZEITIGT BREITENWIRKUNG ...

Seit mittlerweile dreieinhalb Jahren treffen in Trogen per Post oder per persönlicher Übermittlung Pakete ein, Boxen mit den Höchstmassen 420 x 210 x 210 mm, individuell verpackt, Wundertüten von Daniele Buetti, Pascale Grau, Silvie Defraoui, Andy Guhl, Christoph Rütimann, Fritz Hauser, Boris Nieslony, Dorothea Rust, Christian Zehnder, Fischli / Weiss, Muda Mathis, Katharina Vogel, Norbert Klassen, Micha Stuhlmann, Katja Schenker, Marcus Gossolt, Chantal Michel, Ulrich Gasser, San Keller und vielen mehr. Der kleinste gemeinsame Nenner dieser Boxen ist die Paketform: Die Inhalte zeigen die Interdisziplinarität der internationalen zeitgenössischen Kunstszene, die sich entlang der Schnittstellen von Performance, Aktion, Tanz, Stimme, Klang, Wort, Video, Film und Rauminstallation bewegt. Hinter jedem einzelnen Paket steckt eine Versandeinladung durch René Schmalz. Den Anfang machte die Box von Roman Signer; Ende 2006 umfasste die Sammlung 126 Boxen, die alle in der Originalverpackung wie Bücher im Magazin eingereiht sind und eine Signatur tragen. Das Stichwort wie Bücher leitet über zur Nutzung der Objekte in der Bibliothek. Es ist nicht das Moment der Magazinierung, mit dem sich das Kunstobjekt von der Bildfläche verabschiedet - eben gerade nicht: Der Schauwerk-Besucher oder Nutzer wählt aufgrund des Online-Katalogs ein Paket, das ihn anspricht, oder er kommt in den Lesesaal und sagt: "Bitte bringen Sie mir die Nummer 67." Dabei weiss er nicht, was die Nummer 67 ist, sondern er wählt diese Nummer zufällig oder weil es eine Zahl ist, die er besonders gerne mag, oder es ist sein Geburtsjahr. Er bekommt dieses Paket und hat nun die Möglichkeit, den Inhalt ganz individuell zu entdecken, zu «lesen» und sich darauf einzulassen.

SHOWS LARGE IMPACT ...

During the last three and a half years envelopes and parcels have been arriving via mail in Trogen or been handed over personally. Formats of 420 x 210 x 210 mm are accepted. Regularly wrapped in an individual style some of them are real surprise packets which among others have been packed by Daniele Buetti, Pascale Grau, Silvie Defraoui, Andy Guhl, Christoph Rütimann, Fritz Hauser, Boris Nieslony - Black Market, Dorothea Rust, Christian Zehnder, Fischli / Weiss, Muda Mathis, Katharina Vogel, Norbert Klassen, Micha Stuhlmann, Katja Schenker, Marcus Gossolt, Chantal Michel, Ulrich Gasser, San Keller and others. The package form is the lowest common denominator: The contents provides evidence of the interdisciplinary interfaces of Performance, Art Action, dance, voice, sound, writing, video, film and Installation Art connecting the global network of contemporary art. Every box relates to an invitation of René Schmalz. Starting with the box of Roman Signer the collection contains 126 pieces by the beginning of 2007. All are kept in original packaging, have a signature, and are stocked in shelves like books. "Like books" may be the keyword for the use of the pieces in the library. When the objects are taken into stock they do not disappear, but on the contrary they are made available for the public use of the visitors of the Schauwerk. Every user can make a choice individually in the online catalogue and may order a piece by its number. If you choose for example 67 randomly or prefer to give your date of birth, the corresponding package will be delivered and the discovery by unpacking, assorting, and reading starts.

UND TIEFE ...

Das Neu-Entdecken und Lesen stellt eine ganz persönliche Verbindung her zwischen der Person, die hinter dem Paket steckt und der Person, die das Paket öffnet. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Pakets, mit dessen Reise nach Trogen, mit der Art der Verpackung und der Nutzung in verschiedenen Kontexten macht die Aktionskunst zur Aktion. Die Auseinandersetzung darf Zeit in Anspruch nehmen, sie soll zum Innehalten verleiten, zum Nachdenken. Was eignet sich hierfür besser als die Räumlichkeiten einer Bibliothek, die Stille des Lesesaals, in dem - vielleicht gleichzeitig - andere Nutzer über alten Büchern oder gar über einem Pergamentcodex aus dem Mittelalter brüten? Das Neu-Entdecken und Lesen mit allen Sinnen kann aber auch anderswo, im Rahmen einer Kunstausstellung, anlässlich eines Filmabends, im Seminarraum einer Kunstakademie, im Schauwerk-Kasten von Urs Bürki, in zufälliger Begleitung mit einem anderen Objekt aus der Sammlung oder im Verbund mit anderer Aktionskunst erfolgen. Möglichkeiten gibt es viele; Wandel und Veränderung gehören zum Schauwerk.

AND DEPTH ...

Re-discovering and reading sets up a very personal relationship between the person behind the package and the person who opens it. Studying the history of the package, its journey to Trogen, the type of packaging and the use of different contexts transforms a previous art action into an action of the client. The examination is supposed to require some time and suspend daily routine, to reflect. What can be better for that than the space of a library, the quietness of a reading room, where - probably at the same time - other clients are pondering over old books or even medieval codices. The re-discovering and reading which requires all senses might also be possible in other spaces, for example during an art show, at the occasion of a film screening, in an art seminar, in a Schauwerk box of Urs Bürki, while a package is accompanying other art objects of a collection or together with performances. Many possibilities are still to be discovered, as constant change is part of the Schauwerk.

UND ZIEHT VERSCHIEDENES NACH SICH

Im Werk der Künstlerinnen und Künstler des Schauwerks steht die Vergänglichkeit, das Momentane, die Aktion im Zentrum. Viele der einzelnen Aktionserlebnisse sind wenigstens teilweise in Bild und Ton festgehalten und ermöglichen dadurch die Konfrontation von Publikum und Künstlerinnen mit diesen Dokumenten zu späteren Zeitpunkten. Während die Pakete der Künstlerinnen und Künstler im Online-Katalog der Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden die Signatur App Schauwerk tragen, sind die zahlreichen Materialien und Dokumentationen sekundärer Art unter der Signatur App SWS verzeichnet und nach Büchern/Katalogen (App SWS), Videos (App SWS V), DVDs (App SWS DVD), CDs (App SWS CD) und Broschüren(App SWS b) unterschieden. Besonders hervorzuheben sind darunter die René Schmalz gehörenden persönlichen Schenkungen von Kazuo Ohno, dem 1906 geborenen Butoh-Mitbegründer, von dem Bücher, Fotos, Handschriften, über 20 Aktionsfilme und originale Tonaufnahmen in Trogen aufbewahrt werden.

AND BRINGS ABOUT DIFFERENT ACTIVITIES.

The ephemeral, the moment, and the action are of central importance to artists and works of the collection. Many of these singular actions and experiences are at least partially recorded on video or audio, providing the possibility of a later confrontation between recipients and these types of work. The black-boxes are to be found in the OPAC under the signature App Schauwerk. Besides that there is a number of secondary sources under the signature App SWS, mainly books and catalogues, but also videos (App SWS V), DVDs (App SWS DVD), CDs (App SWS CD) and brochures (App SWS b) are available. A highlight of the Schauwerk are personal donations by the Japanese Butoh master Kazuo Ohno to René Schmalz. Ohno who was born in 1906 and one of the founders of Butoh contributed books, photographic prints, autographs, more than 20 films and original audiotapes which are now in stock in Trogen.


Heidi Eisenhut, Leiterin Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden
Text by Heidi Eisenhut, Leiterin Kantonsbibliothek Appenzell
AusserrhodenTranslation by Johannes Lothar Schröder, Hamburg

14.07.2009




www.schauwerk-blackbox.ch